11.02.2015
Predigt von Landesbischof i.R. Prof. Dr. Christoph Kähler zum Neujahrskonvent 2015

Predigt über Mt 20,1-16a gehalten am 28. Januar 2015 in der Georgenkirche Eisenach

Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn,
der früh am Morgen ausging,
um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.  
2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde
über einen Silbergroschen als Tagelohn,
sandte er sie in seinen Weinberg.  
3 Und er ging aus um die dritte Stunde
und sah andere auf dem Markt stehen  
4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg;
ich will euch geben, was recht ist.  
5 Und sie gingen hin.
Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.  
6 Um die elfte Stunde aber ging er aus
und fand andere und sprach zu ihnen:
Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig?  
7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt.
Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.  
8 Als es nun Abend wurde,
sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter:
Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn
und fang an bei den letzten bis zu den ersten.  
9 Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren,
und jeder empfing seinen Silbergroschen.  
10 Da aber die ersten kamen, meinten sie,
sie würden mehr empfangen;
und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.  
11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn  12 und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleich gemacht,
die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.  
13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen:
Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht.
Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?  14 Nimm, was dein ist, und geh!
Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir.  
15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will,
mit dem Meinen?
Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?  

Liebe Schwestern und Brüder!
Fritz, er hieß wirklich so, Fritz war ein Seebär,
aber stammte aus Sachsen wie viele Seebären.
Noch nach vielen Jahren in der Hansestadt mischten sich in das Norddeutsch des Chemieprofessors weiche mitteldeutsche Laute. Sein U-Boot war im Krieg nicht untergegangen.
Darum spendete er dankbar bis zu seinem Tod große Beträge für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.
Nach Sachsen kam er zurück zur Umgestaltung der sächsischen Hochschulen. Von insgesamt 24 akademischen Schmieden blieben schließlich dreieinhalb übrig,
von über 30.000 Mitarbeitern nur jeder Dritte
– in sehr kurzer Zeit. Auch viele unbescholtene Kolleginnen und Kollegen verloren ihren Arbeitsplatz.
Dass das nicht ohne schwere Konflikte abging,
versteht jeder unter uns,
der die Umstrukturierung von Kirchgemeinden und Kirchenkreisen begleitet und erleidet.
In solchen Konflikten käme alles darauf an,
dass es gerecht zugeht,
dass die Kriterien stimmen
und transparent angewandt werden.
Zugleich kennen und fürchten wir den Kuhhandel
in allen seinen Formen und die so cleveren Beteiligten,
die durch ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre persönlichen Beziehungen Vorteile erlangen.
An einem der Sonntage, auf die unsere Sitzungen fielen,
war Mt 20 der Predigttext.
In der freiwilligen Andacht vor der Arbeit
wurde dieses Gleichnis gelesen und ausgelegt.
So unzufrieden mit einem Bibeltext habe ich Fritz selten erlebt. Er fand diesen Text zutiefst ungerecht,
ja er hatte ihn im Verdacht, den Sozis Vorschub zu leisten.
Das aber war das letzte, was er akzeptieren konnte –
eine Gleichmacherei, die nicht nach Leistung fragt.
Ohne klare Maßstäbe hätte er keine Forschungs- und Hochschulpolitikpolitik machen wollen.
In den sächsischen naturwissenschaftlichen Fakultäten  
hatte er aber mit seinem Gerechtigkeitssinn hohe Autorität gewonnen. Da konnte es auch mal lautstark zugehen. Hinterher tat es ihm zuweilen leid und er fragte dann vorsichtig, ob es diesmal wohl zu starker Tobak gewesen sei. Fritz war hörbar für Gerechtigkeit und – streitbar gegen Faulheit und Verschlagenheit. Er ließ sich gut einreihen unter die, die sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
Ähnliches höre ich aus unseren eigenen Reihen.
Man schaut sich mit einem gewissen Misstrauen die neugebackenen Demokraten der elften Stunde an und fragt sich – nicht ganz ohne Recht: Was veranstalten die denn in den neuen Zeiten und – in der neuen Regierung?
Missgünstige Blicke gibt es – zumindest in Leipzig – auch bei damals jungen risikobereiten Theologiestudenten gegenüber den älteren, damals Bedächtigeren in der Kirche. Wer waren die wahren Helden, die Last und Hitze getragen haben?
Wer hat mehr riskiert und war klarer und tapferer?
Wer hatte den entscheidenden Anteil an der Friedlichkeit der Revolution? Neid, Unsicherheit und die Frage nach den rechten Maßstäben haben verschiedene Gesichter und kehren in jeder Epoche in irgendeiner Form wieder.
Wer hat das Recht, sich auf seine Leistungen zu berufen?
Wer bekommt jetzt verdientermaßen das Verdienstkreuz,
und wer ist seiner unwürdig?!
Natürlich wissen wir, dass das Gleichnis nur mit einem Kniff funktioniert. Wären die Arbeiter in der Reihenfolge ihrer Anmietung ausgezahlt worden, wer weiß, ob sich dann die Erwartung auf höheren Lohn in den Figuren und – vor allem –
bei uns, den Hörern, so aufstauen könnte?
Doch so kommt eine menschliche Eigenschaft ans Tageslicht. Sie bliebe sonst eher verborgen: Der unerwartete Gewinn anderer – wird oft als eigener Verlust empfunden.
Natürlich habe ich Fritz auch noch darauf hingewiesen:
Der Gewinn der letzten Arbeiter ist nicht ungeheuer groß.
Sie erhalten einen Tagelohn – nicht mehr.
Er wird ihre Familie für kurze Zeit ernähren.
Es wird kein Schatz verteilt.
Dagegen belässt es der Hausherr nicht bei der Abweisung,
seine Antwort an die Murrenden ist dreistufig.
Zunächst die Vertragserfüllung:
Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht.
Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?  14 Nimm, was dein ist, und geh!
Aber das letzte ist schon nicht mehr wörtlich gemeint.
Denn es folgt noch die Selbstbehauptung:
Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will,
mit dem Meinen?
Dann aber folgt der eigentliche Höhepunkt, die Pointe:
Einverständnis wird gesucht mit der geschickten Frage:
Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?  
Wer wollte das bejahen und sich als missgünstig outen?
So schlecht sind wir doch nicht!
Auf unnachahmliche Weise hat das der Kölner Humor aufgenommen und zu einem Teil seines Grundgesetzes gemacht: „Mer muss och jünne könne!“
Auf hochdeutsch ist es nur halb so schön und überzeugend: „Man muss auch gönnen können“.
Wer so großzügig ist oder sich zur Großzügigkeit überreden lässt, dem gelingt wohl auch ein Perspektivenwechsel?
Wie würden wir den reagieren,
wenn wir nicht zu denen gehörten,
die den ganzen Tag geschuftet haben?
Sondern zu denen, die für die hungrigen Mäuler
Brot nach Hause bringen müssten?
Welche Gründe fänden denn die Letzten für die Güte des Hausherrn? Und mit welchen Überlegungen würden sie an die Menschlichkeit der fleißigen Ersten appellieren?
Man kann sich hier eine ausgedehnte Debatte ausdenken. Stattdessen mag hier am Tag nach der 70jährigen Wiederkehr der Befreiung des KZ Auschwitz der Bericht eines Überlebenden stehen.
„Primo Levi erzählt seine Geschichte von erfahrener Güte in Auschwitz, die er selbst fast wie eine Legende empfindet.
Der italienische Zivilarbeiter Lorenzo bringt ihm sechs Monate lang täglich unter eigener Lebensgefahr ein Stück Brot,
schenkt ihm ein Unterhemd voller Flicken.
Er schreibt für ihn Postkarten und bringt ihm die Antworten. Levi schreibt in seinem Buch ‚Ist das ein Mensch?‘:
‚Dafür verlangt er keine Belohnung
und will auch keine nehmen,
denn er ist gut und einfach und glaubt nicht,
dass man Gutes um der Belohnung willen tun soll. …
Ich glaube (schreibt Levi weiter),
dass ich es Lorenzo zu danken habe,
wenn ich noch heute unter den Lebenden bin.
Nicht so sehr wegen seines materiellen Beistands,
sondern weil er mich mit seiner Gegenwart,
mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein,
dauernd daran erinnerte,
dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unsern da ist.… Lorenzo war ein Mensch.
Seine Menschlichkeit war rein und unangetastet,
er stand außerhalb dieser Welt der Verneinung.
Lorenzo zu Dank war es mir vergönnt,
dass auch ich nicht vergaß,
selbst noch ein Mensch zu sein.‘
‚Fast eine Legende‘, schreibt Levi.
Legende bedeutet auch Lesart.
Lorenzo schenkt ihm eine andere Lesart seiner Existenz,
als er sie im Lager erfährt.
Er lehrt ihn, sein Leben gut zu lesen, dem Tod zum Trotz.“