10.10.2012
Predigt von Landesbischof Jochen Bohl aus Dresden am 7. Oktober 2012
in der Eisenacher Georgenkirche im Rahmen der Eisenacher Predigten zur Lutherdekade 2012
Matthäus 22, 34ff, Das höchste Gebot
34Als aber die Pharisäer hörten, dass er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. 35Und einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: 36Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? 37Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt A « (5.Mose 6,5). 38Dies ist das höchste und größte Gebot. 39Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). 40In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Liebe Gemeinde,
nicht oft, aber dann und wann begegnet man Menschen, denen man ansieht, was sie antreibt; was für sie das wichtigste ist und über allem steht. Sie gehen einem bestimmten Ziel nach, und es kann gar keinen Zweifel geben – daneben gibt es nicht viel anderes. Es ist etwas Ausschließliches um diese Menschen, das sie unterscheidet von den vielen, die sich tagtäglich bemühen, unterschiedlichen Anforderungen gleichermaßen gerecht zu werden. Wer so konzentriert auf ein Ziel hin lebt, kann dabei etwas Vorbildliches ausstrahlen, das schön anzusehen ist. Johann Sebastian Bach war so ein Mensch, seine Begabung stellte er unter den Wahlspruch „Soli Deo Gloria“; die Strahlkraft seiner Person reicht bis in das 21. Jahrhundert hinein. Ich denke aber auch an die Eltern eines erkrankten Kindes und die Liebe, die in ihrem Bemühen zum Ausdruck kommt, Trost und Zuversicht zu spenden. Oder an den Landarzt, der zu jeder Tages – und Nachtzeit für die Kranken in seinen Dörfern da ist und sich selbst dabei nicht schont. Solche Menschen gibt es, Gott sei Dank.
Es gibt aber auch andere, die wohl in ähnlicher Weise ausschließlich leben, einem bestimmten Anspruch folgen – dabei aber ein ganz unansehnliches oder vielleicht sogar abstoßendes Bild von ihrer Person entstehen lassen. Sie werden von Begierden getrieben, die sie nicht zu beherrschen wissen; das ist unschön anzusehen. Selbstliebe und Eitelkeit können alles vergiften – und darüber wird sogar das Gute, das auch solche Menschen tun, in einem gebrochenen Licht erscheinen. Auch gibt es, Gott sei’s geklagt, nicht wenige Zeitgenossen, die für Geld und Besitz buchstäblich alles tun, vielleicht sogar über Leichen gehen würden.
Ja, es gibt Menschen, denen man sofort ansieht, was ihr Antrieb ist, im Guten wie im Bösen. Um andere mag es in ihrem Inneren ähnlich bestellt sein, aber sie wissen ihren Antrieb zu verbergen, dann umgibt sie etwas Rätselhaftes und man hat den Eindruck, dass da noch etwas Unausgesprochenes, verborgenes sein könnte; das macht es schwer, ihnen zu vertrauen. Wieder andere sind auf der Suche nach ihrem höchsten Ziel. In sich tragen sie eher eine unklare Gemengelage, unter der sie leiden; vielleicht hoffen sie ja, irgendwann zu einer Klarheit zu finden, was denn nun für sie gilt und was es wert ist, sich zu entscheiden, das Herz daran zu hängen. Das aber gelingt ihnen nicht, sie versuchen es immer wieder, durchleiden Irrtümer und darüber wächst die Verwirrung, der Schmerz wird quälend…
Die Menschen sind sehr verschieden, gerade was ihren innersten Antrieb angeht. Das hat sich nicht geändert und ist heute nicht anders als es in der Zeit Jesu war – es ist etwas menschliches, Allzumenschliches darin.
Liebe Gemeinde,
die Pharisäer, die den Rabbi Jesus befragten, kannten die Bibel des Alten Testaments gut, sie versuchten aufrichtig, den Geboten Gottes zu folgen und sahen dennoch, wie die Menschen sich schwer tun, nicht in die Irre zu gehen, das Böse zu meiden, sich zu entscheiden für das Gute und es dann auch zu tun. Das ist in unseren modernen, aufgeklärten Zeiten nicht leichter geworden. Aber gerade deswegen ist das Bedürfnis nach Orientierung stark; viele suchen, was man tun und lassen soll, wofür es sich lohnt, die eigenen Gaben und Kräfte einzusetzen. Ein Ziel zu haben, und klare Wegweisung. Wie sollte man sich denn auch in dieser verwirrenden Welt zurechtfinden, wenn es kein Höchstes Gebot gäbe, das über allem stünde?
Liebe Gemeinde,
es ist ein Segen, dass wir die Heilige Schrift haben, in der wir finden, was gut ist für uns Menschen und nötig für ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Als Jesus gefragt wird, was denn das Wichtigste für das Leben eines Menschen sei, fasst er ihre Aussagen zusammen. Wie unter einem Brennglas scheint der Wille Gottes für uns Menschen in zwei Bibelstellen auf:
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«
Zuerst: von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt…das ist eindringlich formuliert und wer die Worte hört, versteht, dass Jesus das größte, das unbedingte Ziel meint, das jeden Menschen angeht. Gott gehört nicht an den Rand des Lebens, sondern in die Mitte. Das ist das höchste Gebot, und man darf es nicht ignorieren, wenn man nicht das Leben verfehlen und sich verirren will. Wenn irgendetwas gilt, dann dies. Wer es hört, soll wissen, dass Gott nicht ein blasser Gedanke ist, keine ferne Vorstellung des Ungewissen, sondern eine Wirklichkeit, die im Menschenleben wirksam wird. Martin Luther hat es im Katechismus, in der Erklärung zum 1. Gebot so gesagt: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.
Man könnte erschrecken angesichts des hohen Anspruchs, der darin liegt. Denn wer könnte von sich sagen, dass Gott wirklich „über allem“ steht? Und nicht der Gedanke an die eigene Person zuerst kommt, nicht die Familie, nicht der eine geliebte Mensch, oder der Beruf, die Besitzwünsche? All dies hat doch eine Bedeutung, an der wir uns freuen und die unseren Einsatz fordert – sollen wir das wirklich an den Rand unseres Lebens stellen? Wer lebt schon so, dass das ganze Herz, alle Sinne, die Seele auf Gott gerichtet sind?
Es hat in der christlichen Kirche immer, von allem Anfang an, Menschen gegeben, die aus diesem Grund ihren Ort im Kloster gesehen haben, um Gott ungehindert von den vielen nachgeordneten Dingen die Ehre geben zu können. Gerade vor wenigen Wochen erst bin ich mit einer Jugendgruppe in Taizé gewesen und habe den Dienst, den die Brüder dort an der Jugend Europas tun, bewundert. Es gehen Wirkungen von der Gemeinschaft im Burgund aus, die das Leben verändern, zum Segen vieler.
Und zugleich hat die Kirche zu allen Zeiten daran festgehalten, dass die Liebe zu Gott und den Menschen im Alltag des Lebens gelebt und bezeugt sein will, wie wir es versuchen. Beide Lebensweisen sind notwendig, die christlichen Lebensformen ergänzen sich und brauchen einander; das Kloster und das Zeugnis im Alltag. Es ist ja Gottes Wille, dass wir dem Leben mit seinen vielen und widersprüchlichen Herausforderungen eine Gestalt geben. Jesus weiß sehr wohl, dass es die anderen Dinge gibt; die Familie, der Beruf, die Freude am Erfolg; all das behält sein Recht – aber bekommen durch die Gottesliebe erst ihren Ort, so dass sie geheiligt werden und zum Segen. Dazu, und das ist das Zweite, ist uns das Gebot der Nächstenliebe gegeben, als Richtschnur, die uns leitet. Jesus sagt, dass es der Gottesliebe gleich ist. Im Beruf und in der Arbeitswelt, in der Familie und den Nachbarschaften kommt es darauf an, dass wir einander zum Nächsten werden und barmherzig miteinander umgehen als Kinder Gottes. Jesus freut sich, wenn wir tun, was getan werden muss, damit Frieden und Gerechtigkeit einziehen. Wenn wir der Liebe leben und so unserem Herrn nachfolgen, der an die Seite der Schwachen getreten und den Schwachen ein Arzt geworden ist. Immer wieder hat er den Seinen erklärt, wie der Anbruch des Gottesreichs erkannt wird: die Armen hören die Frohe Botschaft, Blinde sehen und Lahme gehen (Mt.11,4), die Nähe Gottes heilt die Wunden der Menschen. Wo wir einander zum Leben helfen, uns in Liebe begegnen, da ist das Reich Gottes nah. Der Apostel Paulus hat seinen Herren gut verstanden, als er sagte: hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz (1.Kor.13,1). Die Gottesliebe heiligt, was wir tun; unser Mühen bekommt seinen Ziel und Sinn. Die Nächstenliebe kommt von der Gottesliebe, sagt Martin Luther.
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«
Wer so lebt, darf darauf hoffen, dass Gott seinen Segen gibt und uns davor bewahrt, uns zu verlieren in dieser verwirrenden Welt und in die Irre zu gehen. Der wird nicht meinen, sich selbst an die erste Stelle setzen zu dürfen, sondern seinen Mitmenschen liebevoll, im Geist der Versöhnung begegnen.
Liebe Gemeinde,
Jesus wurde eine schwierige Frage gestellt. Wie soll man unter den vielen Worten und Geboten der Bibel, die bedeutsam sind, das eine benennen, das über all den anderen steht? Aus ihren vielen Geschichten und Erzählungen die konzentrierte Aussage finden, die sie zusammenfasst – das ist nicht leicht. Wie gut, dass der Herr uns so klar und genau gesagt hat, worum es geht in einem Menschenleben: wir sollen Gott lieben und den Nächsten. Im Doppelgebot der Liebe fasst er zusammen, worum es geht. Es wird gut werden mit uns, wenn wir uns daran halten. Dann wird geheiligt, was wir tun und lassen und gerät uns und den Mitmenschen zum Segen.
Ob man uns ansieht, was uns das Höchste ist? Ob wir am Doppelgebot der Liebe erkannt werden?
Ja, ich bin dankbar, dass ich Menschen begegnet bin, und immer wieder Schwestern und Brüder begegne, die erkennbar sind als solche, die Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt lieben und ihren Nächsten wie sich selbst. Es sind viele, bekannte und unbekannte, schlichte und hochbegabte wie Bach, alte und junge, Männer und Frauen und Kinder, die je an ihrem Ort mit je ihren Möglichkeiten die Liebe sichtbar machen, zu der wir berufen sind – in Wort und Tat und Musik.
Gebe Gott, dass auch wir erkannt werden an der Liebe, die in uns ist!
Amen.