18.09.2012
Predigt von Prof. Dr. Christof Gestrich, Berlin am 16. September 2012
zum Abschluss der Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffergesellschaft, Sektion Bundesrepublik Deutschland, zum Thema „Bonhoeffer und die Mission der Kirche in unserer Gesellschaft“ in der Eisenacher Georgenkirche.
Predigttext: Galater 5,25f, 6,1-3.7-10: Wenn wir im Geist Leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Irret euch nicht, Gott lässt seiner nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber Auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.
Liebe Gemeinde,
Kennt auch Ihr, so wie ich, jene Kehrseite unseres Glaubens, dass wir uns leider oft sagen müssen: „Da hättest du als Christenmensch aber mehr tun sollen? Da hast du geschwiegen, wo du hättest reden sollen. Da warst du wieder einmal nicht geistesgegenwärtig, und es fehlte dir die Zivilcourage. Nicht der Geist Christi hat dich beseelt, sondern der Geist des ‚Fleisches’, der Trägheit oder gar Feigheit? Ja, ich denke das kennen wir alle: Wieder einmal waren wir nicht ‚Salz’ der Erde oder gar ‚Licht’ der Welt, sondern ängstlich, gar bequem.
Ein Kontrast dazu scheint Dietrich Bonhoeffer zu sein, das große Vorbild. Der ist, um politische Verantwortung im eigenen Volk zu gefährlichster Stunde zu übernehmen, gegen den Rat von Freunden 1939 aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrt. Der hat ein Stück weit dem Rad in die Speichen gegriffen und dafür den Tod auf sich nehmen müssen. Dabei hätte der glänzend begabte Mann auch eine akademische Theologenkarriere in einem wenig behelligten Wissenschaftler-Leben einschlagen können.
Freilich wissen wir, und das rückt uns Dietrich Bonhoeffer wieder persönlich näher, dass auch dieser Theologe Stunden des Haderns mit sich selbst gehabt hat, weil auch er nicht immer geistesgegenwärtig und mutig genug seinen Mund aufgetan hat - etwa zugunsten der Menschen- und Bleiberechte von Juden und Judenchristen im deutschen Staat und in der evangelischen Kirche. Auch Bonhoeffer war kein ‚gemachter Christenmensch’. Zudem beklagte er immer wieder, dass man der damaligen Theologie so gar nichts Gewisses fürs Leben und Sterben entnehmen könne. Er war ja ein Kind des Ersten Weltkriegs und hatte in seiner Frühzeit erlebt, dass alle Grundlagen der bisherigen Kirche wegbrachen. Seither war er immer auf der Suche nach dem, worauf er sich als Christenmensch im Leben und Sterben verlassen könne.
Auch wir, liebe Gemeinde, müssen uns persönlich mühen um das, was uns trägt. Es geht nicht anders. Wir können uns nicht nur an Vorbilder halten, sondern müssen auch Pioniere unseres eigenen Glaubens sein. Denn nicht nur steht unser Leben manchmal unter der schwierigen Forderung: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind…; verschaffe den Elenden und Armen Recht“ (Sprüche 31, 8f).’Sondern verlangt ist von uns auch, dass wir uns nach persönlichem Versagen wieder im Glauben aufrichten, uns trösten lassen, und dass wir auch anderen wieder auf die Beine helfen.
Das Wort aus den Sprüchen Salomonis ‚Tue deinen Mund auf für die Stummen’ hat Bonhoeffer übrigens in seinen Schriften nur sehr selten erwähnt. In der Bibel selbst ist dieses Wort die Mahnung eines alten Königs an seinen Sohn, als dieser ebenfalls König wird. Er möge, sagte der Vater, auf dem Thron nicht zuviel Wein zu trinken und nicht zu viele Frauengeschichten zu betreiben, sondern seine unvergleichlich privilegierte Stellung dazu zu nutzen, den Unterprivilegierten Recht zu schaffen, für sie einzutreten. -: Diese biblische Mahnung betrifft ursprünglich einen völlig unabhängigen Menschen, einen König. Nicht wir alle stehen natürlich in dieser unabhängigen Position mit ihren Möglichkeiten.
Eher stehen wir in der Gefahr eines Glaubenshochmutes, der uns als Christen manchmal denken lassen kann: Eigentlich bist du ja auch ein König. Mindestens sogar. Im Glauben eigentlich gänzlich frei von allen Bindungen der Welt. – Ja, und dann gerät derselbe Christenmensch beruflich in eine Betriebssitzung an seiner Arbeitsstelle. Alle werden zu einem existenziellen Zukunftsproblem befragt. Als der Christenmensch die seinige andeutet, laufen andere rot an und rufen dazwischen – was so etwas denkst du? Da sind wir von dir aber tief enttäuscht. Der Christenmensch wird kleinlaut. Als er mitbekommt, wohin der Wagen bei der Mehrheit der wichtigen Personen läuft, passt er seine Meinung irgendwie an.
Das kennen auch wir. Wir wissen, wie schwer es auch für den im Glauben freien Christen ist, in einer Minderheitssituation tapfer zu bestehen. Das ist eine Not, die Bonhoeffer ebenfalls kannte, und zu der er sich auch theologisch geäußert hat – nicht zuletzt aus Kenntnis seiner eigenen Seele und Schwäche heraus. Er hat sich nicht nur selbst ermahnt zur freien, ungescheuten persönlichen Verantwortungsübernahme, sondern auch zu folgendem: „Niemals soll ich allein handeln, denn ich brauche den Rat der christlichen Geschwister.“
Hier ist richtig erkannt. Was Jesus Christus heute getan haben will, das fordert er nicht allein speziell von mir, sondern es betrifft gleichzeitig auch die anderen Glieder am Leib Jesu Christi mit. Alle diese Glieder hängen und wirken ja zusammen. Sie müssen es mittragen, was ein einzelner, weil er gerade an der Passenden Stelle steht, umsetzten muss – sei es unterstützend, sei es, falls der einzelne scheitert oder versagt, heilend und stellvertretend handelnd.
„Einer trage des anderen Last!“ Ich habe mich oft gefragt, warum der Apostel Paulus diesem Gebot Christi noch den Satz beigefügt hat, am meisten solle das aber geschehen unter den Glaubensgenossen, unter den Mitgemeindegliedern. Ist das nicht befremdlich? Warum sagt Paulus nicht einfach, lass dich betreffen von der Last deines Nächsten vor deiner Tür? Warum soll ausgerechnet denen in der Gemeinde noch mehr und noch eher Gutes getan werden als allen anderen Mühseligen und Beladenen in der Welt?
Welches ist die Antwort darauf? Weil Christenmenschen in der Nachfolge Christi berufen sind, ihr Kreuz auf sich zu nehmen. Das Kreuz? Wir unser Kreuz? Ja. Aber wir müssen es nicht etwa suchen, nicht fragen ‚wo ist es denn’? Es ist irgendwann da. Dann haben wir es anzunehmen – sei es eine Krankheit, sei es ein auf unser Gewissen gelegter schwerer Auftrag Christi: Wir sollen Unwahrheit aufhellen; wir sollen eine Ungerechtigkeit nicht stehen lassen. Da sehen wir plötzlich große Einsamkeit vor uns; vielleicht auch Schmach; ja, den Tod. Und wir werden dann kein zweiter Jesus Christus sein. Aber wie sehr werden wir Christus dann für uns benötigen. Und auch den Beistand der christlichen Geschwister, die uns in der Hoffnung halten, wenn dieses uns sinken will; die auch mit ihrer Fürbitte an dem mittragen, das auf uns liegt.
Da sehen wir auch den Wert der Kirche, der Gemeinde in der Situation des uns auferlegten Kreuzes. Wir können so Schweres nicht allen schultern. Ich bin auch nicht Jesu Christi Spitzenmann oder Spitzenfrau, die am besten in schwierigen Notlagen helfen und die Situation sachgerecht beurteilen könnten. Nein, oft ist das verständigere Urteil, ist auch die größere Kraft bei der Gemeinde. In der Kirche sind wir eben nicht alle eigene ‚kleine Könige’, sondern nur einer wie der oder die andere. Überhebt euch nicht, mahnt Paulus. Erkennt, wie schnell ihr in der Nachfolge Christi auch versagt. Und Sündenlast, die von einzelnen Christenmenschen in die Welt gesetzt wurde, betrifft auch die Gemeinde, die Kirche als ganze. Auch in späteren Generationen. Darum gibt es beispielsweise die ‚Aktion Sühnezeichen’ oder die Bemühungen ganzer Landeskirchen um eine neues Verhältnis zum ‚Volk des alten Bundes’ Israel. Zusammenwirkend kann die Christengemeinschaft einen Neuanfang gewinnen, der allen gut tut, auch rückwirkend heilt und versteht. Es ist alles ein Leib.
Heute, wo bei uns Kirchengemeinden als Ort und Ebene des christlichen Lebens eher reduziert werden, möchte ich hieran erinnern. Wir brauchen die christliche Gemeinschaft, wie dies einst auch bei Bonhoeffer in seiner Not, unter seinem Kreuz der Fall war – und nicht erst dann, auch schon vorher. Wir brauchen das Erlebnis, dass am Leib Christi aus anfänglicher christlicher Vielstimmigkeit dann, wenn es darauf ankommt, auch eine geistliche Einstimmigkeit vom Haupte her entsteht, so dass es zu gegenseitiger Erbauung, Kurskorrektur, Unterstützung und Tröstung kommt – über die Grenzen der Richtungen und Lager hinweg. Kirche ist ‚Gemeinschaft der Heiligen’ am ‚gegebenen Ort’.
Jede Gemeinde ist auch Dienstgemeinschaft, und gerade dies, dass man miteinander eine Aufgabe hat, schmiedet zusammen. Und auch das menschliche Versagen, das dabei unterläuft, schmiedet zusammen - , denn es lässt alle aus konkretem Anlass neu auf die aufrichtenden Worte des Evangeliums hören.
Kürzlich berichtete mir ein Pfarrer aus einem sehr entlegenen Landesteil, dass in der Nähe seines Dorfes eine Asylbewerber-Sammelstelle liege. Er sei hingegangen und habe den Eindruck gewonnen, einer der ersten Pfarrer zu sein, die dorthin ihren Fuß gesetzt haben. Das Elend dort ist schlimm. Der Pfarrer bemerkte, dass sich unter den Asylanten auch Christen, ganze christliche Familien befinden. Um ein Haar hätten sie völlig abgetrennt bleiben müssen vom Gemeindeleben der einheimischen Christen direkt in ihrer Nachbarschaft. Und auch umgekehrt wären diese abgetrennt von jenen Glaubensgenossen geblieben. Wird doch die Sammelstelle von den Ortsansässigen als bedrohlich gewertet. – Über die ‚Brücke’ aber, dass der Pfarrer mit Seelsorgebesuchen in der Sammelstelle begonnen hat, lässt sich inzwischen ein wenig Licht organisieren. Die Verbesserung des Umgangs mit den Asylsuchenden gehört im heutigen Deutschland ja wirklich unter die großen Prioritäten der öffentlichen Mission der Kirchen. Es geht um die heute in unserem Land bedrückten Fremdlinge. Die Tätigkeit jenes Pfarrers scheint inzwischen auch den Kirchengemeinden vor Ort einen sie belebenden Geist zuzubringen. Sie hören nun von mancher Not und haben mit zu beraten.
„Wenn w i r nun im Geist leben, so lasst u n s auch im Geist wandeln.“ Es ist nicht von dir oder mir die Rede, sondern von uns! Wir sind alle angesprochen, die zusammen mehr können. Weltlich gedacht, heißt es zwar „der Starke ist am mächtigsten allein“. Wir aber sind unterstützungsbedürftige und auch unterstützungsfähige Glieder am Leib Christi. Ein Christenmensch berät sich gern. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten...“, die wir doch einer wie der andere, und als Eigenbrötler nichts sind.
Aber unser Kreuz? Müssen wir es nicht doch am Ende ganz allein tragen? Dazu weiß ich nur dies zu sagen: Es ist uns gut, zu verinnerlichen, dass wir einer wie der andere Saatgut Christi sind, kleine Samenkörner. Es geht bei unserem Kreuz nicht um das traurige Ende unserer Person, sondern immer um einen Anfang des Guten, das aus Christi leib in die Welt hinein wächst. So geistlich und gut dürfen wir unser bedrängtes jetziges Leben verstehen: als Teil der Saat, als Leben, das nicht allein bleibt. An anderen Christen haben wir es vielleicht schon beobachten können: Je tiefer wir hinab müssen, desto größer wird die Nähe zu Jesus Christus. Durch diejenigen, denen z.B. der Pfarrer Trost bringen soll, wird am Ende er selbst am meisten getröstet. Das ist das Licht über dem Kreuz. Es darf aber nicht zerredet werden. Es ist Glaubensgeheimnis.
Wir sind schwach. Die ganze Kirche ist schwach. Und doch ist „unser Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1 Joh 5,4). Werfen wir wirklich unsere Sorgen auf den Herrn. So wird er gewiss für uns sorgen (1 Petr 5,7). Amen.
Gebet:
Hilf uns Jesus Christus, mit Dir immer im Gespräch zu sein, dass unsere Seele gewiss wird, wohin du uns rufst. Hilf, dass wir dich in den gering geachteten Brüdern und Schwestern wahrnehmen und dir dienen. Hilf uns in unserer Angst vor dem Kreuz. Lass uns spüren, dass du uns trägst. Und hilf uns, dass wir unseren Platz in der Kirche heute und morgen ausfüllen im Nehmen und im Geben. Gemeinsam bitten wir: Kyrie eleison!
Hilf uns, Jesus Christus! Lass die Kirchen Stätten der Evangeliumspredigt und der geschwisterlichen Gemeinschaft sein und bleiben, wo wir aufgerichtet und ausgerichtet werden auf unserem Weg zu Gott. Gib der Kirche- in der Gemeinschaft der Gläubigen - die Kraft, den „Mund aufzutun für die Stummen“, für die vom Recht Ausgeschlossenen und in der Kultur Benachteiligten. Lass den Geist des Lebens zu ihnen aus der Kirche und von ihnen in die Kirche kommen. Gemeinsam bitten wir: Kyrie eleison!
Hilf uns, Jesus Christus, dass diese so weit vom reich Gottes entfernte Welt sich doch jederzeit als eine dem Reich Gottes nahe Welt erweist. Er wecke ihr Menschen, die Verantwortung tragen, auch wenn es schwer wird. Sende Zeichen der Ermutigung in die heutige Welt, dass wir eine Gegenbewegung gegen die Bewegungen nach unten verspüren. Sende wirksame Friedenskräfte in die gegenwärtig von Bürgerkriegen und von Religionsaufständen heimgesuchten Länder. Gib dass die Religionen nicht Anlässe zum Zwist und Mord und Totschlag stiften, vielmehr helfen, das Blutvergießen zu unterbinden. Sende deinen Geist, der aus Bösem Gutes macht, und lass uns allezeit in dir Freude, Rettung und Licht finden: Gemeinsam, bitten wir: Kyrie eleison.