29.08.2011
Predigt von Superintendentin Martina Berlich am 28. August 2011

im Rundfunkgottesdienst von MDR-figaro aus der Georgenkirche in Eisenach.

Predigttext: Lukas 19,41-48

Liebe Gemeinde hier in der Georgenkirche und am Radio!

Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit.
Kann Gott weinen?
Gottes Sohn weint über Jerusalem:
Im Lukasevangelium weint Jesus über das,
was 70 Jahre nach Christi Geburt wirklich geschieht:
Jerusalem wird zerstört.
Unzählige Menschen kommen ums Leben oder werden vertrieben. Vom Tempel bleibt nur ein Mauerrest übrig.
Die Bundeslade mit den zehn Geboten geht verloren.
Seitdem kam unvorstellbares Leid über das Volk Israel.
Es wurde zerstreut in alle Winde und grausam verfolgt.

Wie Jesus weint das jüdische Volk jedes Jahr um Jerusalem am Trauertag Tischa BeAw. Er erinnert an die zweimalige Zerstörung des Tempels erst durch die Babylonier und dann durch die Römer. Fast zur gleichen Zeit gedenkt seit langem auch die Kirche der Zerstörung Jerusalems.
Doch wie verschieden sieht das Gedenken der Geschwister aus: Das jüdische Volk weint über sich selbst, sieht die eigene Vergangenheit kritisch und spürt Gottes Nähe eher in den Niederlagen. Wir Christen dagegen haben Jesu Weinen über Jerusalem jahrhundertelang wie eine Art Heldensage weitererzählt. Als Beweis dafür, warum es dem jüdischen Volk so schlimm ergehen musste, warum das Gottesvolk Israel durch die Kirche abgelöst und der Alte Bund durch den Neuen ersetzt werden musste - weil Jesus von Israel nicht als der Messias erkannt wurde.

Zwar wird der Zerstörung Jerusalems seit der Reformation vor allem als Warnung gedacht. Und Bugenhagen und Luther rufen auch zur Selbstkritik auf. Doch Jesus Weinen muss als abschreckendes Beispiel auf Kosten Israels herhalten.

So erklärt Luther in einer Predigt: Als Jerusalem zerstört wird, seien die Apostel und Christen längst aus der Stadt heraus gewesen, sie seien Gottes Korn, während Gott die Spreu in einem Haufen in Jerusalem versammmelt habe. Die Stadt war bei ihrer Zerstörung voller Feiertagsbesucher, Wallfahrer und Pilger. So gab es besonders viele Opfer. Luther schreibt: “Es ist auch noch heut destages das verachtest volck auff erden, allent halb sind sie zerstrewt und kennen nicht zusammen.” Als sei Israel sozusagen selber schuld an Pogromen, Antisemitismus, Holocaust!

Kann Gott weinen? Im Lukasevangelium weint Jesus wie eine Mutter um ihr Kind. Voller Mitgefühl spricht Jesus von den Frauen, die ihre Kinder verlieren werden (Lukas 21,23 + 23,28f.). Jesus möchte Jerusalem davor beschützen, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt (Lk 13,34). Jesus gehört zu seinem Volk auch in der Trauer um Jerusalems Schicksal. Jesus weint über Jerusalem – und Jesus weint über Eisenach.
Als am 9. November 1938 die Synagoge brennt und am Tag danach Luthers Geburtstag gefeiert wird, als wäre nichts gewesen.
Schlimmer noch: Ein halbes Jahr nach der sogenannten Reichspogromnacht wird in Eisenach das sogenannte “Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes” gegründet.
Mehrere deutsche Landeskirchen beteiligen sich daran. Leiter sind der Neutestamentler Walter Grundmann und Siegfried Leffler, Mitbegründer der “Deutschen Christen”. Auch der Eisenacher und spätere Leipziger Thomaskantor Erhard Mauersberger arbeitet mit. Ein antijüdisches Neues Testament und Gesangbuch erscheinen. Und hier in der Georgenkirche werden an den Emporen alle Bibelworte aus dem Alten Testament durch Verse aus dem Neuen ersetzt.
Sogar zwei Verse aus dem Neuen Testament müssen verschwinden weil sie die Worte Israel und Mose enthalten: (aus dem Lukasevangelium: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk. Lukas 1,68
und aus dem Johannesevangelium: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Johannes 1,45)

Auch Bachs Kantate zum Israelsonntag hat uns nicht vor dem bewahrt, was wir unseren jüdischen Geschistern angetan haben. Der Kantatentext steht ebenso in der problematischen Tradition, die das Schicksal Israels als Abschreckung missbraucht. Die Kantate geht auf einen Choral zurück, den Martin Moller während einer Pestepedemie gedichtet hat. Er ruft zwar zu schonungsloser Selbstkritik auf, doch nicht am christlichen Versagen gegenüber dem Judentum, sondern an unserer Schwachheit und Verführbarkeit. Voll Klage und großem inneren Ernst enthält der Text wenig Tröstliches. “Der dunklen Noterfahrung wird nur die Möglichkeit nicht die Gewissheit einer Erhörung gegenüber gestellt”, schreibt Bachkenner Jochen Arnold.

Die Kantate verbreitet keinen Triumph, keine Selbstgerechtigkeit. Mit dem bitteren, grimmigen Eingangschor ist sie schwer und trist und gerade darin beeindruckend. Evangelium, frohmachend, ist sie nur dank ihrer Musik. Denn Bach hat das Erbarmen Gottes hineinkomponiert. Vor allem in den 6. Satz, den wir nach der Predigt hören. Dieses Duett zählt Bachliebhaber Marten't Haart zu den schönsten Bacharien überhaupt: Ein langsamer Tanz, der eine sanfte Stimmung verströmt und mit der Flöte das Bild vom guten Hirten musikalisch ausmalt.

Wegen der Texte wären Bachs Werke nicht so beliebt. Sie stammen ja auch nicht von ihm, die Texte. Die Worte sind oft menschlich beschränkt. Bachs Töne dagegen drücken Gottes grenzenlose Güte aus. Die Musik lässt uns mit weinen mit dem guten Hirten - über uns selbst.

Jesus weint über Jerusalem – bis heute. Über die Terroranschläge in Südisrael und die Luftangriffe im Gazastreifen. Und Jesus weint bis heute über uns. Über die 30 rivalisierenden christlichen Konfessionen in Jerusalem, von denen sich allein 5 Jesu Grabeskirche aufgeteilt haben.

Jesus weint über Anders Brevik, den selbsternannten Tempelritter, der zum Kreuzug gegen Muslime aufruft und es für christlich hält, Kinder zu erschießen.

Wenn Jesus weint, dann weint auch Gott! Jesu Weinen beantwortet unsere Frage: Wo Gott ist, was Gott tut, wenn Schreckliches geschieht, Gott sieht nicht weg, Gott geht nicht weg, Gott ist da und weint.

Wie Jesus nicht wegsieht und nicht weg geht von Jerusalem, um dass er weint. Jesus wendet sich nicht ab, sondern geht mitten hinein zurück in den Tempel, wo ihn Simeon und Hanna als den neugeborenen Heiland begrüßt haben (Lukas 2,22-40) wo er als Zwölfjähriger mit den Erwachsenen disputierte (Lukas 2,41ff.).

Dorthin, in den Tempel, kehrt Jesus am Ende zurück. Er bleibt nicht bei der Trauer stehen und distanziert sich auch nicht von Jerusalem. Er gibt nicht auf, obwohl er so schwarz sieht. Sondern er wird aktiv. Jesus vertreibt die Händler aus dem Tempel. Und bleibt da, betet und legt die Heilige Schrift aus, damit Jerusalem erkennt, was zum Frieden dient. Jesus weint über Jerusalem und Jesus geht hinein nach Jerusalem, so weit, dass er ans Kreuz geht.

Jesus im Weinen und nach Jerusalem folgen - dieser Weg liegt heute vor uns. Damit sich der Traum erfüllt, von dem die Bibel bis auf ihre letzen Seiten erzählt: Vom himmlischen Jerusalem, in dem Gott bei den Menschen wohnt und alle Tränen trocknet. Wie Israels Propheten hat Jesus davon geträumt, dass das Weinen über Jerusalem aufhört, dass Gott, der wie eine Mutter weint, wie eine Mutter tröstet. Und dass der Frieden von Jerusalem ausgeht.

Darum weint und davon träumt Jesu Volk bis heute an der Klagemauer in Jerusalem, dem letzten Rest Tempel. Wo Betende ihre Tränen und ihre Träume auf kleine Zettel schreiben und in die Mauerritzen stecken und Gott Tag und Nacht um Erbarmen bitten.

Es gibt keinen Frieden für uns, für die Kirche. Wenn es keinen Frieden für Jerusalem, für Israel gibt. Das können wir nicht voneinander trennen ohne zu zerstören, wovon wir leben. Solange das irdische kein himmlisches Jerusalem ist,
werden wir als Kirche nicht unseren Frieden finden.

Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit. Heute am Israelsonntag hat das Weinen seine Zeit über unser Versagen und unsere Schuld an Israel. In Jesu bitterem Tod, gedenken wir aller bitteren Tode.

Und darum ist es höchste Zeit für uns, aktiv zu werden, und zu suchen, was dem Frieden dient.

Wenn in einigen Tagen hier vor der Georgenkirche auf dem Markt Rechtsextreme demonstrieren, werden wir beim Friedensgebet Gesicht zeigen.

Wenn wir bald die Emporen der Georgenkirche restaurieren werden wir die Geschichte der ausgelöschten Bibelverse
für alle sichtbar machen.

Und im Eisenacher Lutherhaus wird die neue Daueraustellung das ganze Jahr über davon erzählen, was den Israelsonntag so schwer macht und doch hoffen lässt: vom sogenannten Entjudungsinstitut, das alles Jüdische in der Kirche beseitigen sollte, und von Erika Fackenheim, die aus Eisenach fliehen musste und als Avital Ben Chorin zurückkehrte.

Beides hat seine Zeit: wie Jesus mit seinem Volk um Jerusalem weinen und wie Jesus aktiv werden.

Es ist höchste Zeit, dass wir weinen und keine Ruhe geben, bis am Israelsonntag das Lachen seine Zeit hat.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.