01.12.2016
Predigt von Jutta Noetzel zu Esra 9.6

Predigt von Jutta Noetzel, Halle, zu Esra 9.6. Gehalten am 31. Oktober 2016 in der Georgenkirche Eisenach

„Das Wort sie sollen lassen stahn“ Letzte Predigt in der Reihe Georgenkirche zu Eisenach am 31. Oktober 2016
Jutta Noetzel, Pfarrerin der Reformierten Gemeinde zu Halle

Liebe Schwestern und Brüder,
gestern ist hier die neue Ausgabe der Lutherübersetzung überreicht worden. Ein großes Ereignis. Seit 1984 hat sich unsere Welt verändert, auch unsere Sprache. Wir lebten in der Welt der ABVs und der BoWu, der Broiler und der Forumschecks, und heute schon wissen viele nicht mehr, was das war. Auch Martin Luther wusste schon, dass Sprache sich ständig weiterentwickelt und haute Johann Eck um die Ohren: „Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel es tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen.“

Ebenso gehört zu dieser sich verändernden Welt, auch die theologischen Fragen, die in der Bibel gestellt werden, immer wieder neu zu übersetzen und zu fragen, was sie heute bedeuten und was sie in unserem Leben anrühren.
Heute steht ein Zitat aus dem Buch Esra im Zentrum der Predigt. Einst stand es mit 70 anderen an der Empore dieser Kirche. Ich will es wecken mit dieser Predigt, aber ich warne Sie: es ist kein gefälliges Wort und eine charmante Predigt lässt sich dazu auch nicht halten.

„Esra sprach: Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, mein Gott, mein Angesicht zu dir zu erheben, denn unsere Sünden sind uns über
den Kopf gewachsen und unsere Schuld reicht bis zum Himmel. (Esr 9,6)

So beginnt das lange Bußgebet Esras. Kennen Sie Esra eigentlich? Diesen Schriftgelehrten im Alten Testament, kundig in der Tora vom Gott des Himmels? Er wird Mose sehr ähnlich dargestellt – manche nennen ihn sogar den „zweiten Mose“. Zusammen mit vielen, die auch noch im babylonischen Exil gelebt haben, kam er nach einer langen Zeit des Wiederaufbaus um 400 v. Chr. nach Jerusalem. Wahrscheinlich hatte er vom persischen Großkönig den Auftrag erhalten, das Gemeinwesen in Jerusalem und der umliegenden Gegend der Provinz Jehud neu zu ordnen. In den Schriften des Frühjudentums wird er idealisiert, so dass man nicht genau weiß, was er tatsächlich getan hat und was ihm erst später zugeschrieben wurde. Überliefert ist, dass er erstmalig die Tora vor dem versammelten Volk vorgelesen hat, dass die Leviten es auslegten und dass das Volk anfing zu weinen, als es die Worte hörte. Die Tränen, ein Zeichen der Schulderkenntnis und der Reue. Genau das, was Esra in seinem Bußgebet stellvertretend für das ganze Volk zum Ausdruck bringt. „Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, mein Gott, mein Angesicht zu dir zu erheben, denn unsere Sünden sind uns über den Kopf gewachsen und unsere Schuld reicht bis zum Himmel.“

Was war geschehen? Israel bekannte sich schuldig, Mischehen mit Frauen anderer Länder eingegangen zu sein. Das Esrabuch beschreibt im AT am radikalsten, wie diese Ehen daraufhin geschieden und die Frauen weggeschickt wurden. Man hat viel darum gerätselt, was die Beweggründe für dieses doch in unseren Augen unmenschliche Vorgehen gewesen sein könnten. Man vermutet, dass große Ängste um die eigene Identität in der entstehenden hellenistisch geprägten multikulturellen Gesellschaft die Ursache sind. Denn die Religion wurde nach jüdischem Verständnis über die Mutter weitergegeben. Sprach diese kein Hebräisch, lernten auch die Kinder die Sprache nicht. Die Tora, die Lebensquelle des entstehenden Judentums, war aber in Hebräisch geschrieben. Die Kinder hätten somit keinen muttersprachlichen Zugang zu diesem Kerndokument des Glaubens. Man fürchtete um die eigene Identität und schickte die Frauen weg. Der Treuebruch gegenüber Gott wog schwerer als der gegenüber der Frau. Merkwürdigerweise gibt es aber ebenso Texte, die in der Perserzeit spielen und davon erzählen, wie eine Mischehe gerade das Leben des jüdischen Volkes befördert – wie zum Beispiel das Buch Ruth.

Esra aber sprach das Bußgebet, in dem er die Heirat mit nichtjüdischen Frauen als Ursache für die Vernichtung des Volkes benennt. Wie gehen wir mit einem solchen Text heute um, der auch Teil unserer Bibel ist?
Wo liegen die Gründe dafür, dass ausgerechnet dieser Vers im 17. Jh. von Superintendent Rebhan ausgewählt wurde, an der Empore hier in der Georgenkirche angebracht zu werden? Und welche Sprache finden wir dafür, dass dieser Vers in einer Zeit, da man die Juden und jedwede Spur ihrer Kultur auszulöschen versuchte, hier entfernte?

Welche Worte finden wir für diese jüdische Geschichte, die mit solcher Vehemenz Abgrenzung propagiert? Welche Worte finden wir dafür? Wenn wir unserem Volk aufs Maul schauen, dann formen viele Lippen Parolen, die die Angst vor dem Untergang des christlichen Abendlandes heraufbeschwören. Wie soll man von dieser Geschichte nationalistischer Abgrenzung, von seiner rassistisch motivierten Auslöschung in einer Situation rechtspopulistisch dominierender Gesinnungen sprechen? Und dies alles am Gedenktag der Reformation, deren Hauptakteuren einer wenige Meter von hier zwar das Neue Testament übersetzte und kluge Grundsätze der Hermeneutik wusste, aber zur Frage des Umgangs mit Andersgläubigen, speziell mit den Juden, auch nichts Nachahmenswertes zu sagen wusste!

Ich hatte Ihnen gesagt: Das Wort des Esra zu wecken, ist heikel. Und es ist mutig von Ihnen, dass Sie es herausfordern und nicht verschweigen.

Was Esra bewogen hat, so mit den Mischehen zu verfahren, können wir nicht beurteilen. Wir können es befremdlich finden, aber letztlich wissen wir über die Situation damals viel zu wenig, um uns ein Urteil bilden zu können. Esras Bußgebet ist eine Selbstdeutung der jüdischen Geschichte. Und wir erfahren aus dieser Deutung, dass es nach dem Zeugnis der Texte des Alten Testaments keinesfalls leicht und unumstritten war, Fremde in die Gemeinschaft aufzunehmen, sondern ein harter und diskussionsreicher Prozeß, an dem die Geister sich schieden.

Was uns betrifft, haben wir kein Recht, die Selbstdeutungen des jüdischen Volkes zu beurteilen. Leider hat unsere Kirche das oft genug getan. Die Auslöschung der alttestamentlichen und apokryphen Bibelworte an den Emporen dieser Kirche geben Zeugnis davon. Sie erzählen die Geschichte unserer Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus mit. Sie erinnern an die Auslöschung auf so vielen Ebenen – das Brennen der Synagogen, die Vernichtungslager, das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben hier in der Stadt. Esras Bußgebet kann uns nur dazu bringen, ein Bußgebet zu sprechen für das, was die Schuld unserer Kirche betrifft. Und Verantwortung zu übernehmen für das, was unser Volk getan hat, auch wenn wir selber nicht dabei waren. So, wie auch Esra stellvertretend für sein Volk das Bußgebet sprach, auch wenn er selber keine Mischehe eingegangen war. Unsere Schuld an den Juden ist uns über den Kopf gewachsen und stinkt bis zum Himmel. Bis heute spüren wir, wie schwierig es noch immer ist, einander frei ins Gesicht zu sehen. Weil immer noch die Frage im Raum steht: Wie denkst Du über das, was geschehen ist?

Das ist eine Seite der Kommunikation. Aber es gibt noch viele andere. Wenn man heute den Leuten aufs Maul schaut, dann ist wichtig, dass wir die problematische Seite von Abgrenzungen übersetzen. In den alten Gesellschaften war der Fremde der Feind, den es auszulöschen galt. Die pointierte Fassung der Toleranzidee erzählt Gotthold Ephraim Lessing in seiner Ringparabel. Seit dem 19. Jahrhundert wurde unter
den Konservativen ein Bild von den Juden gezeichnet, die die Fremdheit der Moderne verkörperten, und die es darum auszulöschen galt. Heute ist es die Angst vor dem Fremden überhaupt, die die Rufe nach Abgrenzung laut macht.

Aber es ist doch gerade ein Kennzeichen unserer Existenz, dass das Fremde auf befremdliche Weise auch in uns selbst ist. Es ist eine verborgene Seite unserer Identität. Wenn wir die Fremde in uns erkennen, verhindern wir vielleicht, sie im anderen zu verabscheuen. Wie groß wird einerseits die Individualität geschrieben. Wie kritisch sehen wir alle Versuche, vereinnahmt zu werden. Das „wir“ ist problematisch, weil es immer die Differenz zu den anderen gibt, Widerstände gegen Bindungen und Vergemeinschaftungen. Schon wenn ich hier von „wir“ rede, wird sich in Ihnen die kritische Stimme melden: Stimmt das? Gilt das für mich auch? Dieser Aspekt nötigt uns, darüber nachzudenken, inwieweit wir Formen des Andersseins akzeptieren können.

Wir – wer ist das? Wer sind die Fremden – wer sind Wir? Ein Mann aus unserer Gemeinde berichtete, dass er sich mit einem syrischen Arzt, der als Flüchtling in unser Land kam, fantastisch unterhalten kann, während die Fremdheit zu einigen Bewohnern in Halle-Neustadt so groß ist, dass man nicht einen Satz miteinander wechseln könnte. Und wer sind wir als Gemeinde? Wir leben in einem säkularisierten Umfeld. Vielen Menschen sind Religion und kirchliche Organisation fremd geworden. Die Vorstellung, an Gott zu glauben, ist vielen fremd. Gleichzeitig tragen unsere Gemeinden noch Reste volkskirchlicher Strukturen. Das Althergebrachte wird gepflegt und manch Neugieriger, der zufällig vorbeikommt wird befremdet.

Für uns stellt sich die Frage neu – nicht wie man die Fremden in ein System aufnimmt, das sie auslöscht, sondern nach dem Zusammenleben mit dem Fremden, von denen wir erkennen, dass wir alle es sind.
Der Vers aus dem Esrabuch gibt zu denken. Und darum ist es wichtig, wenn man ihn schon nicht an der Empore hat lassen stahn, ihn im Gedächtnis zu haben. Und mit ihm das Wort von der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ heißt es im Galaterbrief. Sich dieser Freiheit immer wieder neu bewusst zu werden, ist ein Geschenk der Reformation. Freiheit war für Martin Luther nicht Toleranz. Aber für uns, die wir heute leben, ist sie die Möglichkeit, andere Antworten zu finden als der Mainstream. Sie ist die Möglichkeit, den anderen anders sein zu lassen, ohne sich bedroht zu fühlen. Wir sind frei, weil wir gerechtfertigt sind.

Nur wo das infrage steht, da streit für uns Jesus Christ, wie wir gleich singen werden. „Er hilft uns frei aus aller Not“ – Unsere Hymne am Reformationstag ist ein Vertrauenslied und so lasst es uns singen und beim Singen ringen um unsere eigene, innere Freiheit. Amen.