17.06.2010
Predigt von Landesbischof Dr. Johannes Friedrich im Wartburg-Gottesdienst am 29. Mai 2010

zu Galater 5,1-6

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Festgemeinde,

Landesbischof Dr. Johannes FriedrichEs ist für mich ein bewegender Moment, heute hier zu stehen und zu Ihnen sprechen zu können. Die Wartburg habe ich ja schon öfters besucht. Aber hier mit Ihnen Gottesdienst zu feiern, an dem Ort, an dem Martin Luther in seiner unnachahmlichen, kräftigen Sprache das Neue Testament ins Deutsche übersetzte – das ist schon etwas ganz Besonderes für mich.

In diesen Räumen kann man es sich gut vorstellen, wie Junker Jörg hier gelebt und unruhig auf Neuigkeiten aus Wittenberg gewartet, mit Gott und dem Teufel gerungen und doch unermüdlich gearbeitet hat. In nur elf Wochen hat er das die Psalmen und das Neue Testament aus dem Griechischen übersetzt und hat in diesem dreiviertel Jahr auch noch seine Predigtpostillen, die Auslegung des Magnifikats und seine Schrift über die Mönchsgelübde verfasst.. Und doch – sein Herz war in Wittenberg, nicht in diesem „Luftrevier“. Mit wachsender Sorge begleitete er die Entwicklungen in seiner Stadt. Die Wartburg, das war für ihn Ort der selbst gewählten Gefangenschaft. Gerade er, der die “Freiheit eines Christenmenschen“ erkannt und gepredigt hatte, gerade er musste sich wegen dieser Erkenntnis immer wieder verstecken und konnte sich eben oft nicht frei bewegen. Und trotzdem: Freiheit war und blieb eines seiner wichtigsten Lebensthemen.

Das hatte er mit Paulus gemeinsam. Paulus, der – obwohl selbst oft in Gefangenschaft - auch immer die Freiheit predigte. Paulus und Luther - zwei Männer so unterschiedlicher Zeiten und aus so ganz unterschiedlichen Lebenssituationen – beide hatten in der Freiheit durch Jesus Christus den Sinn und die Rettung ihres Lebens erfahren und waren bereit, dafür auch Bedrängnis auf sich zu nehmen. Hören wir heute, was Paulus über die christliche Freiheit sagt. Ich lese aus dem Brief an digte Galater im 5. Kapitel die Verse 1-6:

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ – mit einem Paukenschlag eröffnet Paulus sein neues Kapitel im Brief an die Galater. Und dieser Paukenschlag hat einen großen Nachhall. Er erklingt über die weitläufige Landschaft Galatiens, die heutige Türkei, und von dort hat er sich weiter verbreitet nach Italien, Spanien, Germanien, bis er schließlich in eine abgelegene Mönchszelle in Wittenberg eindringt und bei dem Augustinermönch Martinus Gehör findet.

Die Freiheit. Oft besungen, zum Leitwort der Aufklärung avanciert und schließlich in unserer Verfassung auf vielfältige Weise verankert ist sie zum höchsten Gut geworden. Umfragen zeigen das: Unter den ersten zehn Werten der Deutschen rangiert immer der Wunsch nach persönlicher Freiheit. Wahrscheinlich stünde sie noch höher im Kurs, wäre die Freiheit für viele nicht so selbstverständlich. Im Grunde brauchen wir nicht einmal eine Umfrage dazu, wir wissen es selbst: Keiner und keine lässt sich heute mehr etwas vorschreiben. Was ich denke, meine oder glaube, bestimme ich. Das erstreckt sich auch auf den religiösen Bereich: Evangelische Freiheit, die ist seit der Reformation immer wieder so verstanden worden: Niemand schreibt mir vor, ob und wann ich in die Kirche zu gehen habe. Niemand kann mich dazu nötigen, am Gemeindeleben teilzunehmen. Niemand darf mich auffordern zu beten, wenn ich es nicht will. Kein Papst, kein Bischof, kein Pfarrer hat mir vorzuschreiben, was ich zu glauben und wie ich zu leben habe. Freiheit von Zwang, den andere mir auferlegen könnten – das versteht man heute unter Freiheit.

Aber ist das auch die Freiheit, von der Paulus an die Galater schreibt? Was ist mit der christlichen Freiheit gemeint, für die Martin Luther später so leidenschaftlich gekämpft hat? Lassen Sie mich versuchen, Ihnen das anhand eines mittlerweile schon recht alten Kinofilmes zu veranschaulichen:

Truman Burbank ist Versicherungsangestellter und führt ein beschauliches Leben in der idyllischen Küstenstadt Seahaven. Bis eines Tages plötzlich ein Schweinwerfer vom Himmel vor seine Füße fällt. Irgendwann erkennt Truman, dass er sein ganzes bisheriges Leben in einem einzigen riesigen Filmstudio zugebracht hat, während der Rest der Welt am Bildschirm sein Leben verfolgt. Truman besorgt sich ein Boot und flieht über das Meer in Richtung Horizont. Und tatsächlich: Nach wenigen Stunden stößt er an den (eben doch nur) gemalten Himmel des gigantischen Filmstudios. An der Schwelle zur Freiheit bleibt er stehen. Soll er nicht vielleicht doch in der sicheren Filmwelt bleiben, die er kennt, deren Darsteller er gerne hat und die so schön einfach und überschaubar ist? Oder soll er das Wagnis der Freiheit eingehen, die aber auch Ungewissheit meint.

Wie würden Sie entscheiden, liebe Schwestern und Brüder? Ich denke, die wenigsten von Ihnen würden zögern. Man braucht nicht unbedingt die Mauern eines Filmstudios, um den Wunsch zu verspüren, auszubrechen, durch eine Tür in die Freiheit zu treten. Einmal ganz frei zu sein: Frei vom Korsett des Alltags, von den täglichen Zwängen, von Erwartungen und Vorschriften – das wäre schon etwas. „Einfach mal frei sein“ – ein Stoßseufzer, den vermutlich viele von uns kennen. Und doch meint die christliche Freiheit noch eine ganz andere Freiheit als diejenige, die uns tagtäglich vielleicht vorschweben mag. (Christliche Freiheit meint nicht einfach eine Loslösung von allen Bindungen, mit der sie heute gerne verwechselt wird, sondern eine Entscheidung, einen Schritt in eine neue Verbindlichkeit.)

Was Luther unter christlicher Freiheit versteht, das hat er ein Jahr vor seinem Aufenthalt auf der Wartburg zu Papier gebracht. Sie kennen vermutlich alle die berühmte These gleich zu Beginn seiner Schrift „von der Freiheit eines Christenmenschen“: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr alle Dinge und niemandem untertan“. Aber sie ist gefolgt von einer zweiten These, die wir heute vielleicht weniger gerne hören: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Wie geht beides zusammen? Jedenfalls sind diese beiden Pole – die Freiheit und der Dienst am Nächsten – auch schon bei Paulus so angelegt. Denn unser Briefabschnitt beginnt zwar mit der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, aber er endet mit der tätigen Liebe: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Christliche Freiheit und Liebe, Glaube und Dienst am Nächsten gehören offenbar zusammen. Die Freiheit, die uns durch Christus geschenkt ist, zielt nicht auf völlige Losgelöstheit, auf Beliebigkeit sondern – ganz im Gegenteil – auf Bindung. Christliche Freiheit bindet an Gott und an den Nächsten, den wir lieben sollen, wie uns selbst. Christliche Freiheit will zuallererst den Einzelnen von seiner Selbstbezogenheit befreien. Wer denkt, dass er das ganze Leben, alle Nöte und Sorgen, ganz alleine, also „frei“ von allem, meistern kann, irrt sich gewaltig. Der ist gefangen in sich selbst und in dem Wahn, alles selbst machen zu müssen. Wer unter Freiheit Bindungslosigkeit versteht, wird an sich selbst scheitern, wird von seiner ständigen Sorge um sich selbst zerfressen werden. Jesus Christus lenkt den Blick aber weg von dem sich breit machenden „Ich“ hin zu Gott, auf den wir alle unsere Sorgen werfen dürfen. Wir brauchen nicht alles aus eigener Kraft zu meistern, weil Gott zu uns hält. Wir sind gerechtfertigt, weil Jesus Christus Gnade schenkt. Schluss mit dem Sorgengeist, ein neuer Anfang mit dem Geist der Befreiung. Und was für eine Befreiung: Wir müssen unser Leben nicht mehr selbst gut machen. Daran müssten wir verzweifeln – wie Luther es erlebt hat. Aber wir kommen ja immer schon her von dem Wort, das uns in der Taufe zugesagt ist: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!

So werden wir, mit Paulus und Luther gesprochen, im Glauben zuallererst nicht zu uns selbst, sondern von uns selbst befreit. Das ist etwas ganz anderes, als moderne Freiheitsphantasien es uns oft versprechen wollen. Die Richtung geht genau anders herum: Wir werden auch nicht von unseren Bindungen befreit sondern hin zu echter, verantwortungsvoller Bindung an Gott und den Nächsten. Ein Christenmensch macht sich freiwillig zum Diener Gottes und zum hilfreichen Geist des Nächsten. Deswegen ist auch unsinnig, z.B. das Fernbleiben vom Gottesdienst mit christlicher, mit evangelischer Freiheit begründen zu wollen. Recht verstandene evangelische Freiheit kann nur in einer tiefen Bindung an Gott wurzeln. Wir sind befreit zur Liebe – und darum befreit, das Beste mitzuteilen, was wir haben: unseren Glauben an Jesus Christus, das Vertrauen, dass alles Leben Gott lieb und wert ist. Wo wäre ein besserer Ort davon zu reden als in der Kirche, in der Gemeinde? Ist die Kirche doch der Ort, an dem wir erfahren, dass wir nicht allein sind mit unserem Glauben an Gott, der in die Freiheit führt. Es ist der Ort, an dem wir uns gegenseitig im Glauben bestärken, uns auf unsere Hoffnung hin befragen lassen und in der Liebe üben. Gerade in dieser Zeit, in der in manchen Gegenden das Häufchen der Christen immer stärker zusammen rückt, wird die Gemeinde immer wichtiger: Als Platz zum Auftanken, zur Selbstvergewisserung, an dem wir diese innere Freiheit erfahren und einüben können. Ich wünsche mir, dass, dass wir als evangelische Kirche etwas von der Freiheit ausstrahlen, die uns von Christus geschenkt ist. Dass Außen stehende spüren: Hier ist eine Gemeinschaft, die sich immer wieder neu aufmacht. Die ohne Angst vor der Zukunft neue, manchmal unkonventionelle Wege findet, wenn es um den Einsatz für das Leben geht. Und die geeint sind von einem Geist, der sie auch durch schwere Zeiten hindurch trägt. Deshalb ist die Kirche für unseren Glauben unverzichtbar. Dass wir uns miteinander stärken lassen und anderen weitergeben von unserem Glauben an Jesus Christus, der uns rein aus Gnade vor Gott gerecht gemacht hat.

Dennoch kann die christliche Freiheit nicht an der Kirchentür aufhören. Denn recht verstandener Gottesdienst ist ja der Dienst am Nächsten. Ein Glaube, der nicht den Alltag gestaltet und verändert, ist nicht in Paulus und Luthers Sinn. Der in der Liebe tätige Glauben kann an so vielen Stellen sichtbar werden, wo Christen sich vom Schicksal anderer Menschen berühren lassen - und sich ihnen zuwenden. Aus christlicher Freiheit heraus können wir uns von der Not der vom Oder-Hochwasser betroffenen polnischen Landarbitern genauso bewegen lassen wie vom Schicksal der Unwetteropfer in Brandenburg. Weil wir uns mit ihnen verbunden fühlen, werden wir nicht mutlos wegsehen, sondern tun, was in unserer Macht steht – zum Wohl unserer Nächsten. „Ich kann doch nicht das Leid der ganzen Welt mittragen!“ Sagen manche. Ja, das stimmt. Aber ich kann versuchen, immer das Leid der je nächsten zu erleichtern. „Ich bin so frei“, sagen Christen, und versuchen freudig dort Not zu lindern, wo sie Ihnen begegnet – ohne Angst davor, zu kurz zu kommen. „Ich bin so frei“, sagen Christen und wagen es, bedingungslos zu lieben – ohne Angst, sich dabei selbst zu verlieren.

Die Freiheit, die Jesus Christus schenkt, ändert zwar oft nichts an unseren täglichen Zwängen. Wer hätte das deutlicher erfahren als Martin Luther, als er hier auf der Wartburg und später – bei uns in Bayern auf der Veste Coburg festsaß. Aber: Wir können im guten Glauben diesen Mauern etwas gelassener gegenüber stehen. Die Freiheit, die wir im Glauben an Jesus Christus erfahren, erinnert daran, dass unser Leben sich nicht in dem erschöpft, was die tägliche Routine vorgibt. Christliche Freiheit macht uns empfänglich für das, was zwischen den Zeilen geschrieben steht. Sie macht frei von uns selbst und von den Zwängen des Alltags, macht aber vor allem frei für das, worauf es eigentlich ankommt: Freundschaft und Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Verantwortung, Glaube, Liebe und Hoffnung. Aus der „Ich-AG“ wird die „Wir-AG“, aus Einsamkeit Nächstenliebe. Denn „in Christus Jesus“, schreibt Paulus, „gilt … der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“. So kann ein Glaubender nie alleine bleiben. Nur durch diese Bindung, sind wir wirklich frei zu denken und zu handeln, zu leben und zu glauben, zu hoffen und zu lieben. In dieser Freiheit können wir anderen gegenüber tolerant und uns selbst gegenüber gnädig sein.

Und Truman Burbank aus der „Truman-Show“ ? Auch ihn lockt letztlich die Freiheit: Nicht nur die Freiheit von den Mauern, die ihn einschließen und die ihm – bei aller Einschränkung – doch auch Sicherheit gegeben haben und Sorgenfreiheit und eine sehr einfache Welt vorgegaukelt haben. Es ist die Freiheit zur Liebe, die letztlich seine Schritte durch die offene Tür ins Freie lenkt. Und es ist die Liebe einer jungen Frau, die ihn unterstützt, seine Freiheit zu ergreifen. Denn – auch das kennen wir: Der Weg in die Freiheit kann Angst machen. Altes aufzugeben, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, Bindungen einzugehen, von denen man nicht weiß, ob sie tragen – das erfordert Mut. Und wer weiß, ob wir ihn hätten, wäre da nicht ein Bruder, der den Sprung schon für uns getan hat, ein Gott, der die Hand nach uns ausstreckt, um uns immer wieder neu in die Freiheit zu führen und eine Liebe, die uns umgibt, bevor wir an sie glauben. Nur durch den Zuspruch dieses Gottes, können wir ein fröhliches und hoffnungsfrohes Leben führen. Gott hat uns lieb. Dieses Wissen macht uns frei, uns selbst und unsere Nächsten zu lieben. Es macht uns frei, in einer Kirche der Freiheit unseren Glauben zu bekennen. Gott sei Dank. Amen.

Landesbischof Dr. Johannes Friedrich ist Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).