17.06.2010
Predigt von Professorin Dr. Corinna Dahlgrün am 2. Mai 2010 in der Georgenkirche

zum Sonntag Kanatate über Kollosser 3,16

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
singet dem Herrn ein neues Lied – so fordert uns der Psalm auf, der dem heutigen Sonntag seinen Namen gegeben hat, cantate Dominum canticum novum. Recht hat er: Singen ist gut. Es ist gut für die Seele, die sich dann öffnen kann und mit ihrem Gesang nicht allein bleibt. Es ist gut für den Geist, der alle Unruhe, allen Ärger oder Kummer mit dem Atem herausströmen lassen, der alles Schwere heraussingen kann, oder alle Freude teilen. Laut zu singen, ist gut auch für den Körper, für die Atmung, für den Herzschlag, für die Durchblutung. Singen ist gut. Und es ist kein gutes Zeichen, wenn jemand überhaupt nichts davon hält, nie mitsummt bei einer schönen Melodie, nie in der Badewanne oder unter der Dusche wenigstens ein paar Brummtöne von sich gibt, ohne Rücksicht auf ‘richtig’ oder ‘falsch’. Wie schrieb Erich Kästner über diejenigen seelenlosen Zeitgenossen, die, wo das Herz sein müßte, ein Telephon haben: “Sie singen nie (nicht einmal im August) ein hübsches Weihnachtslied auf offner Straße.” Laut zu singen ist gut – Martin Luther hat jedenfalls allen Christen mißtraut, die nicht singen wollten. Lehrer oder gar Pfarrer dürfte ein solcher Nicht-Sänger überhaupt nicht werden, fand er, denn die Bereitschaft zu singen sei ein Zeichen echten Glaubens.

Nun kann nicht jeder singen, oder sagen wir lieber: Nicht jeder kann schön singen, oder den Ton halten. So etwas höre ich jedenfalls immer wieder von Studierenden, wenn ich sie auffordere, ein Stück aus der Liturgie zu singen. Sie weisen mit allen Anzeichen des Entsetzens diese Zumutung von sich: “Kann ich nicht, konnte ich noch nie.” Viele haben nur Angst oder genieren sich, eigentlich müßten sie bloß ein bißchen üben und das Gehör schulen. Manche können es wirklich nicht. Da hilft auch keine musikpädagogische oder –therapeutische Maßnahme. Nicht jeder kann singen.

Was tun aber die Nicht-Sänger heute, da sie doch kein neues Lied anstimmen können? Verzichten sie auf ihr Lied? Das müssen sie nicht. Sie können sich, zusammen mit den Sängern, an die Epistel halten, die wir vorhin gehört haben. „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“, heißt es da. In den Herzen sollen wir singen, unsere Seelen selbst sollen singen – Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön. In uns singt es, in jedem von uns, in unseren Herzen, in unseren Seelen. Nicht jeder kann singen, aber jeder hat ein Lied in seiner Seele. Ein Lied in der Seele? Was meine ich damit?

Ich beschreibe es Ihnen an einem Beispiel, einem sehr außergewöhnlichen Beispiel, das aber keine erfundene Geschichte ist. Die Personen, von denen ich Ihnen erzählen werde, haben wirklich gelebt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im nördlichen Mexiko und im Süden der USA. Die eine Person ist ein Mann, Pasqual Pinon heißt er. Die andere Person ist seine Frau, Maria. Daß es sich bei den beiden um ein Paar handelte, war aber für die Zeitgenosen nicht leicht zu akzeptieren, denn von Maria existierte nur der Kopf, der, wie eine Mißbildung, aus Pasquals Stirn herauswuchs. Er trug sie wie ein Bergarbeiter seine Stirnlampe. Für ihn war sie keine bloße Zugabe zu seinem Körper und keine Mißbildung. Für ihn war sie Maria, seine Frau. Natürlich kann sich Maria nicht selbständig artikulieren, sie hat keine eigene Lunge, keine Stimmbänder. Sie versucht, mit ihren Augen zu sprechen. “Daß die Augen versuchten, etwas zu sagen, verstanden sie alle so nach und nach, aber was es war – nein, das war unmöglich zu verstehen. Nur einer hatte den Schlüssel zu diesem Geheimnis: Pasqual. Nur er.” Er hörte den Ton ihrer Seele wie ein Singen in sich selbst, und oft war es ein klagendes, schmerzliches Singen, “ein endloser, langgezogener Klageruf, der sich Tag und Nacht in seinem Kopf wand.” Einmal, als er sich in eine andere Frau verliebt, quält sie ihn mit dem Gesang ihrer Seele. Er hört das nur zu deutlich, und er versteht auch. Aber eigentlich will er nicht verstehen. “Jetzt singt sie böse”, sagt er nur. Ihr böses Singen tut ihm körperlich weh. Schließlich lenkt er ein, und nach einer Weile können alle sehen, daß es vorüber ist. Marias Lippen sind nicht mehr zusammengepreßt, sondern “eher zu einem kleinen, scheuen, fast entschuldigenden Lächeln geöffnet.” Als ein Freund ihre Wange mit einer Feder berührt, sahen alle, “daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. […] Nun singt sie nicht mehr böse, hatte Pasqual gesagt.” Marias Seele singt, auch jetzt noch. Aber jetzt singt sie froh, beruhigt, dankbar. Sie singt ganz verschiedene Lieder, und Pasqual hat gelernt, auf diese Lieder zu achten. Ich denke, er lernt so auch, das Lied seiner eigenen Seele zu hören, er lernt, die Lieder in Einklang zu bringen.

Warum habe ich Ihnen diese Geschichte erzählt? Marias Seele singt schließlich, weil sie sich nur so artikulieren kann. Wir dagegen können reden oder gestikulieren oder auf sonst eine Weise ausdrücken, was in unserer Seele vorgeht. Aber auch unsere Seelen singen. Nur: Was singen sie? „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“, sagt die Epistel. Was für ein Lied singt Ihre Seele? Singt sie fröhlich oder traurig? Oder singt sie böse? Und kann dieses Lied Ihrer Seele ein Lied für Gott sein?

Jede Seele singt. Jedes Gefühl ist eine Melodie, eine Folge von Tönen und Klängen. Schmerz und Trauer klingen anders als Freude und Dank. Liebe und Glück klingen anders als Mitleiden mit fremdem Kummer oder Zorn über Ungerechtigkeit. Dennoch klingen alle diese Töne gut zusammen, denn das Leben produziert nicht nur schlichte musikalische Harmonien und nicht nur Dur-Melodien, sondern oft auch einen spannungsreichen Kontrapunkt, in Dur und moll und Kirchentonarten, manchmal sogar in Zwölftonweise gesetzt. Es muß nicht immer nur Lob sein, das unsere Seele singt. Aber es muß Wahrheit sein, und die Melodien und Akkorde und selbst die Cluster, die zusammengeballten Klänge, müssen rein erklingen. Dann ergeben sie ein Lied, wie Gott es hören will. Jeden Tag ein neues Lied, eine neue Folge von Tönen und Klängen in unserer Seele, ob in Dur oder moll, ob froh oder klagend – alles ist Gotteslob.

Natürlich gibt es auch Melodien und Akkorde, die Gott nicht loben, die als Mißklänge laut werden. Unreine Klänge. Unwahr. Kleinliches Aufrechnen ist so ein Mißklang, Neid, starrsinniges Beharren, Mißtrauen und Haß. Auch Angst. Böses Singen. Es ist verständlich, so, wie das Leben sich manchmal anfühlt. Aber davor müssen wir uns hüten, denn nicht nur, daß solche Lieder Gott nicht loben, sie treiben uns in Starrheit, Verzweiflung und Unversöhnlichkeit, in Einsamkeit und Kälte. Was kann man dagegen tun? Wie können wir verhindern, daß Mißklänge sich in uns festsetzen, die Gott nicht angemessen sind, so wenig wie uns selbst? Wie können wir verhindern, daß wir nur noch böse singen? Die Geschichte von Pasqual und Maria sagt es: Ich darf die Stimme der Seele nicht ignorieren. Statt dessen sollte ich hinhören, zu verstehen suchen. Nicht allein bleiben mit dem Gesang, sondern ihn vor einem anderen, der wirklich versteht, aussprechen. Nicht kämpfen gegen die eigene Seele, sondern im Gespräch sein mit ihr. Annehmen, was sie mir sagen will. Dann singt sie nicht mehr böse.

Und wenn ich hinhöre auf den Gesang meiner Seele, und nichts höre? Dann soll ich nicht aufgeben. Manchmal brauche ich ein bißchen Übung, ich muß mich erst einhören. Vielleicht lerne ich dieses Hören an einem Menschen, der meiner Seele nahe ist und dessen Lied ich darum hören kann. So lerne ich dann auch, auf das zu hören, was meine Seele singt. Manchmal singt die Seele sehr leise, und ich brauche Stille um mich herum, um ihre Melodie hören zu können. Die Lieder in unserem Inneren müssen aber auch nicht ununterbrochen ertönen. Zu jeder Musik gehören Pausen. Pausen sind Musik. Und es sind kostbare Momente, wenn es ganz still wird in uns, und wenn wir darum auf die Musik des Himmels hören können. Nicht nur unser eigenes Leben und Fühlen, auch Gottes Klang bringt Musik in unsere Seele. Nicht, daß unsere Musik darum schon klänge wie der Gesang der Engel. Noch sind wir hier. Noch leben wir in Ambivalenzen, die sich hineinmischen in die himmlischen Akkorde. Noch gibt es mindestens so viel Schmerz wie Freude. Aber manchmal, in ganz besonderen Momenten, ist doch auch hier schon etwas von dem zu hören, was wir am Ende unseres Lebens hören werden, eine Musik, die schöner ist als alles, was wir in unserem Leben jemals gehört haben. Diese Musik ertönt schon jetzt, manchmal hören wir sie von fern und die Lieder unserer Seele stimmen ein in diese Musik, ungeübt, ein bißchen unbeholfen, „mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern.“ Dann tun wir alles, was wir tun, mit Worten oder mit Werken, im Namen des Herrn Jesus und danken Gott, dem Vater, durch ihn.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Frau Dr. Corinna Dahlgrün ist Professorin für praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.