28.04.2020
Corona - kurz und knapp - 5. Mai

Ein Wort zum Tage von Parrer Manfed Hilsemer

Meine große Schwester hatte ein Poesiealbum. Da es ein ungewöhnliches Format hatte und v.a. weil es einen auffälligen rosa Einband hatte, erregte es natürlich die Aufmerksamkeit des kleineren Bruders. Aber es war gar nicht so einfach an das Poesiealbum heran zu kommen. Entweder sie hatte es an ihre Freundinnen und Klassenkameradinnen zum Eintragen verliehen oder sie hatte es irgendwo in ihrem Zimmer versteckt. Doch eines Tages lag es auf ihrem Schreibtisch. Sie war eben weggegangen. Diese Gelegenheit ließ ich mir natürlich nicht entgehen!

Mit viel Liebe und Sorgfalt hatten ihre Freundinnen in Schönschrift und mit irgendwelchen Bildchen Lebensweisheiten dort verewigt. Da las ich z.B.:

„Liebe Gabi bleib gesund, bis die Kirschen wiegen drei Pfund.“ Den Spruch fand ich so richtig blöd.

Auf der nächsten Seite stand: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Das klang schon besser.

Eine Klassenkameradin hatte sich mit folgendem Spruch im Poesiealbum verewigt: „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit‘ren Stunden nur.“ Daneben hatte sie mit Buntstiften eine lachende Sonne und eine Sonnenuhr gemalt. - Der Spruch gefiel mir sofort. Eine gute Lebenseinstellung, dachte ich: wenn man nur die Sonnenseite des Lebens wahrnimmt und die Schattenseite ausblendet.

Inzwischen denke ich anders darüber. Ist das wirklich so erstrebenswert, wenn nur noch die Sonne scheint? Was passiert denn, wenn es nicht mehr regnet?

Ist das wirklich erstrebenswert, immer nur Weißbrot zu essen, das – gerade wenn es frisch ist – sehr gut schmeckt und ohne viel Kauen konsumiert werden kann? Vielleicht tut einem auch mal ein kräftiges Schwarzbrot gut, das gut durchgekaut werden muss.

Inzwischen entspricht folgende jüdische Lebensweisheit viel eher meiner Lebenseinstellung:

„Wenn es regnet ist gutes Wetter, wenn die Sonne scheint ist schönes Wetter.“

Also: zu einem vollständigen, zu einem ausgeglichenen Leben gehören auch die trüben, die regnerischen Tage dazu.

 

Pfr. Manfred Hilsemer, Eisenach

Andacht Hilsemer 3 neu